TEIL 3
Esel haben keine Ölwanne
Dies ist Teil 3 eines Reiseberichts, den mein Vater 1966 geschrieben hat – im Anschluß an eine lange Reise gemeinsam mit meiner Mutter durch Griechenland.
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Eine griechische Nacht weit abseits der großen Straßen ist ruhig, sollte man meinen. Keine Autos, wenig Menschen, Einsamkeit, himmlische Ruhe, nur Zikadengezirpe und am Strand eine leise Brandung. Weit gefehlt! Abseits der großen Straßen gibt es Esel. Viele Esel. Alle hundert Meter einen. Ich liebe Esel über alles, aber ihr Geschrei ist etwas Ungeheuerliches. Besonders nachts. In den frühen Morgenstunden pflegen Esel regelmäßig ihr „Windrosenkonzert“ aufzuführen. Wenn zum Beispiel das Geschrei im Norden anfängt, antwortet augenblicklich der Nachbar in Nord-West, der im Westen läßt nicht lange auf sich warten und spätestens bei der Antwort aus Süd ist man hellwach. Man hat Gelegenheit, über die Esel nachzudenken. Revanchieren sie sich bei den Menschen mit ihrem Gebrüll für 4.000 Jahre harte Arbeit, Schläge und Demütigung?

Es ist mir nie gelungen herauszufinden, wann und warum Esel schreien. Man könnte vermuten, daß es ein Ausdruck des Wohlbefindens ist: denn in Thessalien, im Norden Griechenlands, wo es ausreichend Wasser und, saftige Wiesen gibt, schreien die Esel viel häufiger und lauter. Überhaupt, wenn ich in Griechenland Esel sein müßte, so würde ich mir Thessalien oder Makedonien aussuchen. Da gibt es Gras. Auf dem Peloponnes und den Inseln fast nur Disteln und Dornen. Dieses stachelige Futter kann man nur mit äußerster Vorsicht mit den Händen anfassen. Was für eine Zunge und was für einen Magen hat nur solch ein südgriechischer Esel? Lediglich im Frühling lebt er von Blumen. Ende Februar, spätestens Mitte März, wenn viele Berge noch weiße Spitzen tragen, wird das Land bunt. Eine verschwenderische Pracht, ganze Felder von Margueriten, rotem Mohn und Lilien. Mittendrin stehen die Esel und fressen, und fressen, und fressen. Dabei schauen sie unglaublich gleichgültig und milde in diese Welt.
Langsam schlafe ich wieder ein; bis zum nächsten Morgenkonzert. Diesmal sind es griechische Hühner. Daß ein Hahn morgens um vier Uhr kräht, ist normal. Aber ein echter griechischer Hahn schläft auf dem Baum und ist morgens heiser. Somit bleibt ihm sein erster Schrei buchstäblich im Halse stecken. Der zweite ist etwas besser, der dritte fast gut, der vierte perfekt, und weil es so gut ging, das ganze noch einmal. Alsdann erhebt sich mit Gegacker und Geflatter das ganze Hühnervolk und wandert zielstrebig dorthin, wo es seit Tagen die leckeren Sardinenköpfe gibt, zu unserem Zelt. Ein Geflatter und ein plötzlich ein Schatten auf dem oberen Zeltdach kündigt die Fortsetzung des Konzerts direkt über unseren Köpfen an.
Etwa gegen sechs hört man die ersten blubbernden Diesel auf dem Wasser. Die Sardinenfänger kehren heim, und es ist Zeit zum Aufstehen. Vom nächtlichen Fang wird ein Korb für die Dorfbewohner abgezweigt. Wieviel man für drei Drachmen (39 Pfennig) bekommt, ist vom Fang abhängig. Wenn er gut war, packen braune Hände glatt zwei Kilo in die bereitgehaltene Zeitung. Gewogen wird nicht. Einen Tintenfisch gibt es als Zugabe für den Xenos, den Fremden.

So geht es jeden Morgen. Hühnerwecker, Fische holen, Fische ausnehmen, würzen, in Aluminiumfolie verpacken und braten. Wenn die Folie aufbläht, sind sie gut. Jedes Silberpäckchen schmeckt anders, weil wir sie alle verschieden würzen. Mit Knoblauch zum Beispiel oder mit frischem Rosmarin oder Thymian direkt von den Sträuchern im nahen Pinienwald.

Um neun Uhr beginnen wir, Hof zu halten. Das heißt, eigentlich möchten wir uns sonnen, aber das geht nicht. Der Dorfpolizist kommt mit dem Moped. Er schaut nach dem Rechten und hält ein Schwätzchen. Mit den Armen, mit den Beinen, mit den Fingern und mit den Augen, weil ihm unsere seltsam gebratenen Sardinen so gut schmecken. Dann kommt Nik, der Australier. Man kann ihn alles fragen, er antwortet liebenswürdig und ausführlich in erstklassigem Englisch. Zwischendurch immer wieder die Hühner. Wir rationieren die Fischköpfe. Ein möglichst weit weggeworfener Kopf läßt dreißig Hühner möglichst weit hinterherrennen. Zu Mittag haben wir dreiundfünfzig Schafe und Ziegen, einen riesigen Hund und einen Schäfer zu Gast. Seine Frau arbeitet in Hanau, wir essen seine roten Ostereier und er von unseren Sardinen. Danach verspeisen wir alle seinen weißen Ziegenkäse, den er in ein Leinentuch eingeknotet mitgebracht hat. Weil nun der große Hund die Fischköpfe frißt, trauen sich die Hühner nicht mehr heran.
Am Nachmittag kommt ein freundlicher alter Herr auf einem Esel. Als Gastgeschenk bringt er eine Schüssel Eier und wir bekommen heraus, dass ihm unsere Sardinenkopffresser gehören.

Und dann kommt Kosta. Er kommt ratternd und scheppernd, apfelsinenfarben mit 40 PS und Anhänger, und er ergreift Besitz von uns. Sechs Jahre ist er zur See gefahren, hat gespart und für 23 000 Mark einen Traktor gekauft. Damit ist er jetzt Bauunternehmer, das heißt, er fährt Sand und Kies vom Strand ins nächste Dorf. Weil ich sein griechisches Englisch nur sehr schwer verstehe, nimmt er mich ganz einfach bei der Hand und setzt mich auf sein apfelsinenfarbenes Prachtstück. Ich soll mal fahren. Vorwärts, rückwärts. In seiner Begeisterung spricht er Griechisch und ich verstehe kein Wort. Aber ich sehe, was er meint. Aus seinen Augen leuchten 40 PS.
Ja, und dann stieg Kosta wie selbstverständlich in unser kleines Auto, klemmte sich hinters Steuer und fragte, wie das denn so funktioniere. Er fuhr, übte ein wenig, bremste gewaltig neben meiner Frau und erklärte ihr, wir führen jetzt in sein Dorf. Er würde mir alles zeigen, und heute Abend seien wir zum Essen eingeladen. Jede Widerrede war völlig zwecklos, und daß ich nur eine Badehose trug, schien er gar nicht zu bemerken. Kostas Einfahrt in sein Dorf ließ die Hühner auseinanderstauben und alle Türen und Fenster aufgehen, so ausdauernd bediente er die Hupe. Vor dem Kafeneion stiegen wir aus, und dann wurde ich vorgestellt – in Badehose. Es folgte das unvermeidliche Kaffee trinken, das Haus anschauen, Fotos bewundern, eine Schüssel mit Eiern und Käse in Empfang nehmen, bei der Tante vorgestellt werden, noch Eier dazu bekommen, ein Bündel Zwiebeln und einen Kopf Salat, weil wir doch im Zelt wohnen und selber kochen, noch einem Bekannten die Hand schütteln, noch eine Tante kennenlernen usw. usw.

Am nächsten Mittag war Kosta dann bei uns zu Gast. Das hatte zur Folge, daß ihn seine Freunde im heimatlichen Kafeneion vermißten und darauf kurzentschlossen bei uns eine große Auffahrt machten. Wie eine Wagenburg drängten sich ein Traktor, ein Moped, ein Motorrad, ein Esel, ein großer alter englischer Lastwagen und Kostas „Apfelsinentraktor“ um unser Zelt. Und weil so viel Fahrzeuge am sonst so leeren Strand auffallen, kamen noch Dorfbewohner hinzu, um zu sehen, was es bei uns gäbe.
Richtig munter wird ein Grieche aber erst, wenn sich die Sonne neigt. Um diese Zeit aufrecht und für alle sichtbar an den Häusern vorbei zu unserem Zelt zu laufen, hatte unweigerlich zur Folge, dass wir in einem Kafeneion hängen blieben und dann schließlich voll von Krassi und Retsina im Stockdunklen ans Zelt stolperten. Auf den Trick, direkt am Wasser und somit unsichtbar zu laufen, kamen wir erst viel zu spät. So viel Freundlichkeit und Verbindlichkeit ist nämlich sehr anstrengend und wir sannen auf Mittel und Wege, auch mal wieder allein zu sein. Schließlich sind wir an einem windigen Sonntagmorgen einfach weggefahren. Geflohen, wenn man so will. Für diesen Sonntag standen auf dem Programm Kaffeetrinken und Kino. Vorher wollte noch jemand kommen und mir beweisen, daß seine alte Harley­Davidson noch 180 schafft; auf kurvigen, engen und schlechten Straßen, versteht sich.

So wie auf Euböa ging es uns abseits der großen Straßen fast immer. Jedes mal etwas anders, aber immer gleich herzlich und unwiderstehlich. Besonders ausgeprägt haben wir das auf Kreta erlebt. Die kretische Gastfreundschaft stellt alles andere in den Schatten.

Wenn Sie irgendwo ein bewohntes orthodoxes Kloster finden, auf Kreta zum Beispiel, und wenn es dann auch noch nicht einmal berühmt ist und nur ein Eselspfad dorthin führt, dann sollten Sie es anschauen. Die Mönche haben oft lange keinen Fremden gesehen und zeigen Ihnen alles, was Sie sehen wollen. Die Kirche, das ganze Haus, die Vorratslager, uralte Olivenmühlen, die Wehrgänge aus der Türkenzeit, alte Bücher, Schriften und Ikonen, die Küche, den Stall, einfach alles. Und wenn der Weg zurück am gleichen Tag zu weit ist, kann man im Gästezimmer übernachten. Wenn die Klosterkirche allerdings berühmt ist und täglich viele Omnibusse auf der speziell ausgebauten Straße heranrollen, dann können Sie diese Unberührtheit und Ursprünglichkeit natürlich nicht erwarten.

Aber Sie werden ja abseits des Asphalts fahren. Schwierig? Die Wege sind für Esel gemacht und Esel haben keine Ölwanne – aber es geht viel besser, als Sie glauben. Natürlich kann man auch trampen oder im Überlandbus fahren. Wenn Sie Ihr Zelthaus nicht mitbringen, können Sie auch im Gasthaus wohnen. Und wenn es keines gibt, setzen Sie sich ins Kafeneion und in spätestens einer Stunde wissen Sie, bei wem Sie übernachten können. Und wenn niemand Platz haben sollte, dann reden Sie bis in die Nacht hinein mit den Leuten über Politik, die Kinder, über Adenauer, was man verdient, die Familie, über alles, trinken Retsina und schlafen anschließend im Kafeneion auf dem Tisch. Unvorstellbar, dass Sie in Griechenland kein Obdach finden, denn Sie werden ja abseits des Asphalts reisen.
Alle Fotos in diesem Beitrag: © Usch und Gerd Holtkamp, Griechenland 1966
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