TEIL 1

Abseits des Asphalts
Wir haben Ann Thönnissens Griechenland-Bericht gelesen und sind hingefahren. Es war phantastisch, aber ganz anders. Es wurde eine große Geschichte… eine Geschichte von Blumen, Eseln, Hühnern, Sardinen und von Griechen.
Als „gute“ Deutsche haben wir alles ganz gründlich vorbereitet. Das heißt, wir haben Bücher über dieses gelobte Land herbeigeschafft, Zeitschriftenartikel, den Homer, die griechische Geschichte, Bildbände, Reiseberichte, Landkarten, einen Sprachkursus angefangen, Wörterbücher gekauft und und und … und dann schließlich fast nichts gelesen. Der Sprachkursus war zu schwierig, die Bücher zu langweilig und die Bildbände zu gewöhnlich. Also doch keine guten Deutschen!
Und dann haben wir etwas getan, dass man als Deutscher eigentlich überhaupt nicht tut: wir haben beide die Stelle gekündigt und sind losgefahren. Zwei Monate, fünf Monate – mal sehen! Das einzige, was wir dann doch noch gelesen haben, waren die Aufzeichnungen am Ende der Bücher, wo dann immer steht, dass man sich vor dem Wasser in acht nehmen sollte, dass die Speisekarte nicht zu entziffern ist und man am besten die Gerichte direkt in der Küche aussucht und probiert. Es werden da Spezialitäten und Weine beschrieben, von den Sitten und Gewohnheiten wird gesprochen, daß die Händler gern betrügen, daß orthodoxe Geistliche dreimal heiraten dürfen, wie hoch das Trinkgeld sein soll, was es am Osterfest zu essen gibt usw. usw. So waren wir dann auch bestens informiert über die sagenhafte Gastfreundschaft der Griechen. Es stand zu lesen: „Wenn man mit dem Auto in ein griechisches Dorf kommt, laufen die Kinder herbei und rufen „Ja ssas“, was heißt, daß sie Gesundheit wünschen, Damen werden mit Blumensträußen begrüßt und wenn zufällig ein Fest ist (und es gibt viele Feste) wird man mit Sicherheit ins Haus geladen.“ Ja, einen Gast zu haben, sei eine so hohe Ehre, dass Dorfbewohner, die keinen Gast hätten, diejenigen, die zwei hätten, darum bäten, ihnen einen abzugeben.
Nichts davon stimmte! Wir kamen Mitte März mit dem Schiff von Italien und unser erstes Ziel war die alte Orakelstätte Delphi. Kein „Ja ssas“ und keine Blumen, aber Souvenirläden und Eintrittskarten.



Wir haben erst einmal gespeist und vorher nach dem Preis gefragt. Es schmeckte herrlich, die Rechnung stimmte, und doch war der Preis irgendwie zu hoch. Auf dem Wege zu den alten Tempeln rechnete ich hin und her und wusste plötzlich, was passiert war. Der Herr Wirt hatte genau das berechnet, was ich vorher erfragt hatte. Nur nach dem Preis für den Salat hatte ich nicht gefragt und der war dann prompt übertrieben teuer. Beschwerde führen war unmöglich, der Wirt hatte die geprüfte und bezahlte Rechnung anschließend blitzschnell verschwinden lassen. Es war tröstlich, daß Usch, meine Frau, aus dem Griechenlandführer vorlas: „Die Bevölkerung von Delphi, als ‚Parasiten des Apollo‘ überliefert, war durch Habgier, Faulheit und Eitelkeit bekannt.“
Halten sie mich nicht für einen Banausen, wenn ich solche Randerlebnisse wie dieses in Delphi nicht vergessen habe ob der Fülle herrlicher Dinge, die man dort besichtigen kann. In der Tat, die klassischen Stätten der griechischen Geschichte sind ungeheuer eindrucksvoll. Sicher, es steht nicht mehr sehr viel, aber das, was die Museen zeigen, versetzt auch Leute in Verzückung, die kein humanistisches Gymnasium besucht haben. Nur muss man sich bei einer solch klassischen Rundreise durch die Antike einer Tatsache bewusst sein: vom heutigen Griechenland sieht und spürt man nicht viel! Noch nicht einmal die angedrohten schlechten Straßen. Wenn Sie es gern griechisch hätten, dann müssen Sie runter vom Asphalt. Wir verließen den Asphalt und siehe da, die Kinder riefen „Ja ssas“.


Auf Euböa suchten wir abends einen Platz für unser Zelt und fanden am flachen Strand ein kleines Kafeneion. Es bestand aus einem selbstgebauten Haus, einer Ziege, einer tuckernden Brunnenpumpe, vielen zerlegten Autos, Bergen von Motorteilen, einem aufgebockten Boot, Hühnern, Apfelsinenbäumchen, gestapeltem Baumaterial, Tischen und Stühlen unter Schilfdächern und einem Wirt, der aussah wie Hemingway. Wir bestellten griechischen Kaffee und blätterten, nachdem wir heraushatten, dass er nur griechisch verstand, in unserem Sprachführer. „Dürfen wir hier ein Zelt aufbauen?“ stand dort und ich zeigte ihm das. „Ne“ sagte er freudestrahlend, was ja heißt, und er beschloss, dass wir seine Gäste sein sollten.
Zunächst unterhielten wir uns, und es ist kaum zu glauben, dass man sich in einer Sprache, von der man kaum zwanzig Worte beherrscht, so großartig unterhalten kann. Selbst so etwas kompliziertes wie z. B. meinen Beruf, Art Director in einer Werbeagentur, haben die Leute immer unglaublich schnell verstanden. Unser Hemingway holte zum Zeichen des Verstehens einen großen Bleistift und malte mich kurzerhand auf den Tisch. Ein Kreis, ein Paar Ohren usw., drückte mir den Stift in die Hand, setzte sich in Positur und erwartete nun ein Kunstwerk von sich. Um mir zu erklären, was sein Beruf gewesen sei, malte er einen Bulldozer auf den Tisch, einen herrlichen Apparat, zeigte auf sich, sagte auf griechisch: „Acht Jahre“ und machte dann mit bebendem Schnauzbart ein ungeheures Motorengetöse. Am ganzen Körper bebend und zitternd sahen wir ihn dann tatsächlich auf so einem Ungeheuer sitzen. Als guter Grieche hatte er aber noch viele andere Berufe. Er war zur See gefahren, er hatte Olivenbäume gepflegt und viele Jahre Autos repariert. Er malte die Automarken von Chevrolet und Citroen auf den Tisch und machte uns mit meisterhafter Mimik klar, dass er zwölf Jahre lang der einzige auf der Insel war, der diese Autos, wenn sie stumm waren, wieder zum Brummen kriegen konnte. Es war ein Genuss, ihn brummen zu sehen!
Zunächst unterhielten wir uns, und es ist kaum zu glauben, dass man sich in einer Sprache, von der man kaum zwanzig Worte beherrscht, so großartig unterhalten kann. Selbst so etwas kompliziertes wie z. B. meinen Beruf, Art Director in einer Werbeagentur, haben die Leute immer unglaublich schnell verstanden. Unser Hemingway holte zum Zeichen des Verstehens einen großen Bleistift und malte mich kurzerhand auf den Tisch. Ein Kreis, ein Paar Ohren usw., drückte mir den Stift in die Hand, setzte sich in Positur und erwartete nun ein Kunstwerk von sich. Um mir zu erklären, was sein Beruf gewesen sei, malte er einen Bulldozer auf den Tisch, einen herrlichen Apparat, zeigte auf sich, sagte auf griechisch: „Acht Jahre“ und machte dann mit bebendem Schnauzbart ein ungeheures Motorengetöse. Am ganzen Körper bebend und zitternd sahen wir ihn dann tatsächlich auf so einem Ungeheuer sitzen. Als guter Grieche hatte er aber noch viele andere Berufe. Er war zur See gefahren, er hatte Olivenbäume gepflegt und viele Jahre Autos repariert. Er malte die Automarken von Chevrolet und Citroen auf den Tisch und machte uns mit meisterhafter Mimik klar, dass er zwölf Jahre lang der einzige auf der Insel war, der diese Autos, wenn sie stumm waren, wieder zum Brummen kriegen konnte. Es war ein Genuss, ihn brummen zu sehen!
Dann malte er sich und an jeder Hand Kinder: links ein Mädchen, das vergaß er. Rechts zwei Jungen, die waren sehr wichtig. Er zeigte auf den einen Sohn, zeigte auf den Bulldozer, sagte: „neu … amerikanisch“, sagte: „zehn Jahre“ und brummte und bebte dann wieder. Der andere Sohn hatte es auch mit den Autos.
Alt geworden, hatte er sich hier am Strand das Kaffeehäuschen gebaut. Fleißig und erfinderisch pflanzte er Obstbäumchen und bewässerte sie Tag und Nacht mit seiner Motorpumpe. Ein halbes Dutzend Ersatzmotoren stand bereit, und sein größter Stolz war ein selbst gebautes Motorboot. Es hieß wie das Kaffeehaus „Long Beach“. Er hatte den Namen kurzerhand vergriechischt, und das sah dann so aus, als wenn wir im Deutschen Lonk Pietsch schreiben würden.


Hemingway half uns beim Zeltaufbau, besichtigte unsere Vorräte fürs Abendessen, probierte ungeniert, sagte, seine Frau hätte was besseres und beschloss, dass wir bei ihm zu Abend essen müssten. Es gab gegrillten Fisch, Brot und Retsina. Herr und Frau Hemingway aßen mit den Fingern. Wir bekamen Gabeln. Tischsitten sind eine Frage der Zeit und des Landes. Zu Luthers Zeiten fragte man bei uns: „Warum rülpset und furzet Ihr nicht, hat es Euch nicht geschmacket?“ In Griechenland auf dem Lande ist das heute noch so. Hemingway, wie es sich für einen altgedienten Kraftfahrzeugmechaniker gehört, mit kohlrabenschwarzen Fingernägeln, nahm einen Fisch nach dem anderen auseinander, rülpste aus tiefster Seele und sah uns überglücklich an. Als er bemerkte, dass Uschs Fisch zur Neige ging, riß er kurzerhand ein Stück von seinem ab und packte es ihr mit solch gewinnendem Lächeln auf den Teller, dass sie außerstande war zu protestieren.
Am Nordstrand von Euböa liegt ein Dörfchen und von dort sollte ein Schiff zu den Sporaden gehen. Wir fragten im Kafeneion. Die Unterhaltung braucht nicht immer gemalt zu werden. Meistfindet sich jemand, der plötzlich in erstklassigem Deutsch mit leichtem landsmännischem Tonfall fragt: „Ei was möchte Se denn, kann isch Ihne helfe?“ Und wenn Sie keinen Gastarbeiter treffen, dann finden Sie einen Seemann auf Urlaub, und der kann ausreichend Englisch, oder einen alten Soldaten, der kann Italienisch, oder einen gebildeten älteren Herrn, der kann Französisch.
Also wir wollten auf die nächsten Inseln und Dimitrios, der in Darmstadt Deutsch gelernt hatte, riet uns ab. Touristen, Amerikaner, das Bier doppelt so teuer, er würde uns nicht sagen, wann das Schiff führe, wir sollten lieber hier bleiben. Tatsächlich hat uns in zehn Tagen niemand verraten, wann das Schiff fährt. Einen Fahrplan gab es nicht. Wir sahen es zwar etwa jeden zweiten Tag jeweils zu einer anderen Tageszeit und hätten es natürlich nehmen können, aber da wollten wir schon nicht mehr. Es war zu schön.



Alle Fotos in diesem Beitrag: © Usch und Gerd Holtkamp, Griechenland 1966